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Kunstraub oder Kunstschutz? Der Beutezug der amerikanischen Besatzer (2)

Teil 2: „Wir sind nicht besser als die Nazis!“

Walter Farmer und die Nofretete (Bildquelle: Robert Edsel)

Der Schock saß noch tief, als Walter Farmer sich von seinem Stuhl erhob und begann in seinem Büro des Central Collecting Points auf- und abzugehen. Nur wenigen Minuten waren vergangen, seitdem er das Telegramm aus dem Headquarter erhalten hatte, das immer noch zerknüllt auf dem Fußboden lag.  200 Kunstwerke sollte er nach Amerika abtransportieren? Wie stellten die sich das denn vor? Er hatte tausende eingelagert! Er konnte doch nicht einfach ins Depot gehen und aufs Geratewohl eine Kiste davon auf einen LKW packen. Westward ho – ab nach Amerika. Das kratzte seine Ehre als Kunstschützer mächtig an. Hatte er doch den Dienst bei den Monuments Men angetreten, um Kulturgüter als nationales Erbe zu bewahren. Um die Schäden, die durch die NS-Kunstraubzüge entstanden waren, wieder gut zu machen. Wie sollte er das seinen Mitarbeitern im CCP klar machen –  all die Menschen, die gemeinsam mit ihm den Central Collecting Point zum Laufen gebracht hatten. Ohne sie hätte er das niemals schaffen können. Und nun sollte er ihnen ‚ihre‘ Kunstwerke wegnehmen? Was hatte sich der General nur dabei gedacht? Nach einigen Runden durch sein Büro stieg in CCP-Direktor die Wut auf.

„Wir sind nicht besser als die Nazis“, dachte er erbost, „wenn wir jetzt auch Kunstwerke als Beute in die Staaten schicken.“ Er riss die Tür zum benachbarten Sekretariat auf.

Dort war die Kommandozentrale des Central Collecting Points unterbracht. In dem holzvertäfelten Raum mit den umlaufenden Vitrinenschränken passierte die eigentliche Arbeit des Central Collecting Points. Hier wurden die Eingänge und Ausgänge in die Sammelstelle akribisch dokumentiert, jedes einzelne Kunstwerk auf einer „Property Card“ inventarisiert, mit Foto, Maßen, Fundort und dem vermuteten Eigentümer. Dorothea Buschbaum, die deutsche Schreibkraft, tippte an ihrem Schreibtisch am Fenster die regelmäßige Reports an seine Vorgesetzte in Frankfurt, Lore Hengstenberg prüfte gemeinsam mit Dr. Schoppa die Anträge auf Restitution, bevor sie Farmer und seinem Mitarbeiter Kenneth Lindsay zur Entscheidung vorgelegt wurden. Restauratoren, Schreiner, Reinigungs- und Wachpersonal gingen ein und aus. Den Überblick über dieses emsige Treiben behielt Renate Hobirk, Farmers Übersetzerin und Sekretärin, die auch jetzt an ihrem Schreibtisch in der Mitte des Raumes saß und gerade den Hörer auflegte. „Wo ist Kenneth, Frau Hobirk?“ fragte Farmer.

„Er ist mit Dr. Schoppa noch mal das Goebbels-Bild anschauen, Captain Farmer. Soll ich ihn holen?“ – „Nein, danke, Frau Hobirk. Ich gehe selbst.“

Im Depot angekommen, fand er wie vermutet Kenneth Lindsay gemeinsam mit Wulfhild Schoppa über das Gemälde gebeugt. „Aber es hat mal dem italienischen Staat gehört“, sagte Lindsay, worauf die Kuratorin antwortete: „Dieses Siegel hier auf der Rückseite trägt eine Auktionsnummer. Ich würde einiges darauf wetten, dass Goebbels da keinen hohen Preis für bezahlt hat – wenn er überhaupt etwas dafür bezahlen musste. So oder so sollten wir es zu den Gemälden stellen, bei denen wir mit Anträgen auf Rückgabe rechnen. Wer weiß, wie es in die Hände des italienischen Staates kam. Sind denn wirklich keine Unterlagen mit diesem Bild gekommen? Kaufbelege? Irgendwas?“

„Leider nein“, antwortete der herangetretene Farmer. „Wir wissen nur, dass es in Berlin im Hause von Reichspropagandaminister Goebbels gefunden wurde. Wir wissen weder, wo der Rest seiner Sammlung geblieben ist, noch wo dieses ein Bild herkommt.“ Dr. Schoppa nickte. Das hatte sie bereit befürchtet. Fehlende Unterlagen erschwerten die Untersuchung der Eigentumsverhältnisse. Aber das war leider die Regel.

Farmer wandte sich unterdessen Kenneth Lindsay zu. „Ken, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“

Gemeinsam verließen sie das Depot und gingen durch die ehemaligen Ausstellungsräume, in denen sich die Kisten und ausgepackten Kunstwerken in Regalen und Stellagen stapelten. Farmer schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, all die Kunstwerke auf die Seereise zu schicken. Denn davon war er überzeugt: Die 200 Kunstwerke wären erst der Anfang. Er erzählte Lindsay von dem Telegramm, das er erhalten hatte. Der junge Mann wurde blass. „Meinen Sie wirklich, Captain? Alle Kisten?“ fragte er sich hilflos umsehend. Er hob die Arme in einer umfassenden Geste. „Wie sollen wir denn hieraus die erste Fuhre zusammenstellen? Steht da irgendwas, was sie genau haben wollen?“

„Kenneth, das ist doch gar nicht der Punkt!“ Farmer packte Lindsay am Oberarm. „Wir müssen verhindern, dass diese Kunstwerke abtransportiert werden. Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir noch Wochen und Monate brauchen werden, bis wir mit Sicherheit sagen können, bei welchen Bilder Rückforderungsansprüche anderer Länder bestehen werden – die müssen wir natürlich zurückgeben. Diese Kunstwerke müssen also hier bleiben, wenn wir es uns nicht mit den anderen Alliierten verscherzen wollen.“ Er begann wieder aufgebracht in dem vollgestopften Raum umherzugehen. „Sehen Sie nur diese Kisten hier, Ken. Das sind die Kunstwerke aus Berlin. Das ist sicher deutsches Eigentum, die Kunstwerke gehören schon so lange in die Berliner Sammlungen, lange bevor Hitler an die Macht kam.  Das ist Teil deutschen Kulturerbes.“ Er klopfte auf die oberste Kiste.

„Wiederaufbau, Kenneth, Wiederaufbau eines demokratischen Staates. Ein Staat, der Werte hat, der sich gegen Diktatoren wehren kann. Das ist es doch, was wir wollen. Deutschland ist eine Kulturnation. Sie hat es nur einige Jahre vergessen. Was passiert denn, wenn wir ihnen jetzt ihre Museumsbestände wegnehmen? Die Berliner Sammlungen hier. Nebenan stapeln sich die Kunstwerke aus dem Frankfurter Städel. Im ersten Stock noch die Kisten aus dem Wallraf-Richartz-Museum. Die Textil-Arbeiten, die Sie letzten Monat aus Mannheim gebracht haben. All das sollen wir ihnen wegnehmen? Das wäre genauso Beutekunst, wie es die Nazis es in Frankreich oder Holland gemacht haben.“

„Was haben Sie vor Captain?“

„Ich befürchte, wir können da gar nichts machen. Der Abtransport ist ein Befehl. Wenn ich mich dem widersetze, kann ich vor dem Militärgericht landen.“

„Was meinen Sie, wissen die anderen Kunstschutzoffiziere davon?“

„Nein. Vermutlich nicht.“ Farmer seufzte und strich langsam mit der rechten Hand über die Kiste mit der Aufschrift „Berliner Gemäldegalerie“. Es war einfach unfassbar. Es musste doch einen Weg geben, wie er dafür sorgen konnte, dass die Kunstwerke in Deutschland blieben. Dafür traten doch alle Kunstschutzoffiziere ein. Kulturgüterschutz zur Bewahrung des Kulturerbes. Auch seinen Kollegen würde er erklären müssen, wie er es zulassen konnte, dass der Wiesbadener CCP nach und nach leergeräumt wurde. Die würden darüber nicht gerade erfreut sein.  Er blickte auf. „Aber ja, Kenneth, das ist es! – Alleine kann ich gar nichts machen, aber wenn wir alle, wenn die ganze Einheit protestiert…. Dann müssen sie doch auf uns hören.“

Er packte Lindsay wieder am Oberarm. „Los, lassen Sie uns rausfinden, wo die anderen sind. Sie müssen herkommen, bevor ich die Kunstwerke auf die Reise schicke. Gemeinsam fällt uns was ein.“

Fortsetzung folgt!

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Hinweis: Die geschichtlichen Hintergründe sind aus den Quellen und der Sekundärliteratur recherchiert, basieren also auf Fakten. Ich habe mir in diesem Beitrag lediglich die Freiheit genommen, diese Fakten durch eine erfundene wörtliche Rede der Protagonisten anzureichern.