07.11.1945: Das „Wiesbadener Manifest“ – ein Zeichen für Kulturgüterschutz im Krieg

Heute vor genau 77 Jahren wurde im Gebäude des Landesmuseums Wiesbaden ein historisches Dokument unterzeichnet, das wie kein zweites die Haltung der amerikanischen Kunstschützer im Zweiten Weltkrieg belegt. Nicht nur, dass die „Monuments Men“ europäische Kunstwerke vor der Zerstörung bewahren wollten, sie kümmerten sich auch darum, dass deutsches Kulturerbe im Land verbleiben konnte und nicht dauerhaft in die Vereinigten Staaten abtransportiert wurde. Den Ausgangspunkt hatte die Entstehung des Manifest in dem Wiesbadener Central Collecting Point, in dem die Kunstschützer seit Kriegsende die in der Umgebung aufgefundenen Kunstwerke, die zu ihrem Schutz ausgelagert waren, zusammengeführt hatten, um über ihr weiteres Schicksal zu bestimmen.
Eingerichtet im Sommer 1945 vom Kunstschutzoffizier Capt. Walter Farmer beherbergte die im Gebäude des heutigen Landesmuseums Wiesbaden eingerichtete Sammelstelle verschiedenste Kunstwerke, die die Monuments Men auf ihrer Kunstschatzsuche aufgefunden hatten. Einen großen Fund machten sie zum Beispiel in einer Salzmine im nicht weit entfernten Merkers (Thüringen), wo Bestände der Berliner Museen eingelagert waren, unter anderem so bedeutende Werke wie die Büste der Nofretete, der Welfenschatz oder Rembrandts „Mann mit dem Goldhelm“. Im Laufe seiner Bestehenszeit kamen in diesen Central Collecting Point noch weitere Bestände anderer Museen, die kriegsbedingt an die unterschiedlichsten Orte in Sicherheit gebracht worden waren. Diese Kunstwerke waren dabei so vielfältig wie ihre Herkunftsorte und Auslagerungsstätten. Steinplastiken aus der Ägyptischen Abteilung der Berliner Sammlungen, Münzsammlungen, Bücherkisten der Berliner Kunstbibliothek, Gemälde und Druckgraphiken aus dem Wallraf-Richartz-Museum Köln, dem Städel, der Mannheimer Gemäldegalerie, Skulpturen, Teppiche – all diese Kunstwerke wurden von Farmer und seinem Team auf ihre Herkunft untersucht und an die Eigentümer zurückgegeben. Ein Großteil der Kunstwerke war damals deutscher Museumsbesitz und wurde auch als solcher an die Museum zurückgegeben, einige Kunstwerke wurden bereits während der Besatzungszeit von Vertretern anderer Länder (unter anderem an Frankreich und Holland) restituiert.
Mit vielen der im Wiesbadener CCP eingelagerten Kunstwerke veranstalteten die Besatzer Ausstellungen, bei der stets der Publikumsliebling, die ägyptische Königin Nofretete, zu sehen war. Mit diesen insgesamt 10 Ausstellungen demonstrierten die Kunstschützer ihren Einsatz für den Kulturgüterschutz, zeigten der deutschen Bevölkerung – die Ausstellungen zogen nicht nur Besucher aus Wiesbaden an – die große Bandbreite ihres Kulturerbes auf, überwiegend etablierte Altmeistergemälde, Kunst der Renaissance oder des 18. Jahrhunderts. Aber die Alliierten präsentierten auch die von Hitler bevorzugte deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts (etwa Spitzweg), mit einem neuen Blick auf diese Kunstwerke, die in den USA bis dahin weder in öffentlichen Sammlungen noch an den kunsthistorischen Fakultäten eine besondere Rolle gespielt hatte.
Das Wiesbadener Manifest
Warum diese Ausstellungen? Die Monuments Men hatten mit dem Verwalten der Kunstwerke im Collecting Point alle Hände voll zu tun. Und trotzdem wollten sie die vorhandenen Kunstwerke zeigen. Das steht meiner Meinung nach in engem Zusammenhang mit einer Episode des Wiesbadener Collecting Points aus dessen Anfangszeit: Im November 1945 – der CCP war bereits seit vier Monaten in Betrieb – erhielt Direktor Farmer ein Telegramm vom seinem Vorgesetzten General Clay, er möge 200 Gemälde aus den Einlagerungsbeständen auswählen und in die USA senden, da ihre sichere Unterbringung in Deutschland nicht gewährleistet sei. Sie sollten in Amerika verwahrt werden, solange bis sich die Situation geändert hat. Farmer ist erstaunt – hatte er doch alle Anstrengungen unternommen, um die eingelagerten Kunstwerke in Wiesbaden bestmöglich, mit nachkriegsbedingten Einschränkungen, unterzubringen. Sollte da eine Beutekunst-Absicht dahinter stehen? Wollten die Amerikaner deutsche Kunstwerke als Reparationszahlungen in die USA bringen? Waren diese 200 Kunstwerke nur der Anfang von einem Beutekunstzug größeren Stils?
Farmer kann diesen Abtransport nicht gutheißen. Er widerspricht seiner Auffassung von Kulturgüterschutz, von der Bewahrung vom Kulturerbe einer Nation, das vor Ort bleiben muss. Er ruft seine in Europa stationierten Kunstschutz-Kollegen nach Wiesbaden. Gemeinsam verfassen und unterzeichnen sie das „Wiesbadener Manifest“, in dem es unter anderem heißt:
„Wir möchten darauf hinweisen, daß unseres Wissens keine historische Kränkung so langlebig ist und so viel gerechtfertigte Verbitterung hervorruft wie die aus welchem Grunde auch immer erfolgende Wegnahme eines Teils des kulturellen Erbes einer Nation. (…).“
Dieser Protest konnte den Abtransport nicht mehr verhindert. Die 200 Kunstwerke – ausgewählt wurden Meisterwerke von Künstlern wie Rembrandt, Rubens, Tizian, Cranach, Dürer, Holbein, Raffael, Mantegna, Edouard Manet, Rogier van der Weyden oder Jan Vermeer – kamen im Dezember 1945 in Washington an und wurden in den Depots der National Gallery of Art eingelagert. Durch die in die Vereinigten Staaten zurückgekehrten Kunstschutzoffiziere, die in der Fachpresse ihre Erlebnisse in Europa publizierten, wurde das Manifest in den USA veröffentlicht und spätestens mit seiner Veröffentlichung im „New Yorker“ auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Durch diesen öffentlich gemachten Protest musste schließlich auch die amerikanische Regierung einlenken und die Kunstwerke – nach einer Ausstellungstournee durch die USA, deren Erlös deutschen Kinderhilfswerken zugutekam – an Deutschland zurückgeben. Sie bilden heute, neben den weiteren aus den CCPs retournierten Kunstwerken, den Grundstock der deutschen Museumsbestände. Weitere Abtransporte von Kunstwerken in die USA hat es nicht gegeben.
Der DLF widmet diesem Jahrestag vor einiger Zeit ein „Kalenderblatt„.